Berufswunsch Lokführer

Früher, wo ich noch jung war, also sehr sehr jung, da bekommt man als Kind irgendwann mal die Frage gestellt: "Und was möchtest du werden, wenn du mal groß wirst?"

Meine Antwort habe ich in einem anderen, kurzen, Blogpost reingesetzt. Kindheitstraum ist und war der Lokführer. Doch, wie kommt man eigentlich auf diesen Traumberuf? Meistens hört man doch eher den Feuerwehrmann, Fußballspieler, Astronaut, Spion, Geheimagent und heutzutage mittlerweile noch Influencer. Aber das gab's damals in meiner Kindheit nicht. Das höchste der Gefühle war das Festnetztelefon, mit dem man die Freunde im Ort und im Nachbardorf angerufen hat, um zu Fragen, ob der andere denn Zeit hat. Das lag vielleicht auch am noch nicht erfundenen Smartphone und selbst ein Tastenhandy war damals noch Luxus.

Der Kindheitstraum Lokführer. Ich glaube, ich war der Einzige in meiner Grundschulklasse, der Lokführer werden wollte. Auch schon im Kindergartenalter. Aus heutiger Sicht ein ungewöhnlicher Kindheitstraum. Immer wenn ich in den Vorstellungsgesprächen für eine Azubi-Stelle vom Kindheitstraum Lokführer höre, war einer der (Groß-)Eltern bei der Eisenbahn. Vielleicht auch der Onkel. Etwas seltener sind oder waren die Bewerber bei einer Parkeisenbahn tätig.

Aber ich? Nun ja. Eine Parkeisenbahn gab es in meiner Nähe nicht. Meine Eltern und Großeltern arbeiteten auch nicht bei der Eisenbahn. Meine Großmutter väterlicher Seite wohnte gegenüber vom Bahnhof. Mein Kindergarten lag direkt an der Eisenbahnstrecke Neustadt (Dosse) - Herzberg (Mark). Das war's. Mehr Verbindung zur Eisenbahn gab's nicht.
Trotzdem stand ich jedes Mal am Zaun. Züge gucken. Bei meiner Großmutter und im Kindergarten. Sobald ich hörte, dass sich ein Zug näherte.

Meine Kindheit prägte die Prignitzer Eisenbahn. Die blauen Uerdinger Schienenbusse, die durch die flache Landschaft der Ostprignitz-Ruppin tuckerten und nach verbranntem Rapsöl rochen. Das war meine Kindheit. Dem Triebfahrzeugführer konnte man bei der Arbeit über die Schulter schauen. Das war spannend. Dann kam das Grundschulalter. Am Zaun konnte ich nun nicht mehr stehen und schauen, wenn der Zug kam. Doch in den Ferien, wenn ich in die Ganztagsbetreuung in den Hort musste, gab es wieder Eisenbahn für den kleinen Hendrik zu bestaunen. Ungefähr einmal die Woche machten wir nämlich einen Ausflug. Am spannendsten waren die Fahrten nach Berlin. Da ging es erst mit dem Schienenbus nach Neustadt und von dort aus mit einem anderen Zug in die Bundeshauptstadt. Der hatte zwei Etagen und vorne eine große Lokomotive, die mit Strom fuhr. Ich war ganz aus dem Häuschen. Doch die Ernüchterung folgte schnell: Dem Lokführer konnte man nicht mehr über die Schulter schauen und auch die Sicht auf die Strecke war sehr eingeschränkt. Dafür war der Zug viel schneller unterwegs und auch die Lok blieb in Erinnerung. Ein Kindheitswunsch wurde wahr, als ich 2020 die Ausbildung auf der Baureihenfamilie 112/114/143 bekam.

Als sich meine Grundschulzeit dem Ende näherte, sollte auch die Prignitzer Eisenbahn ihr Gesicht verändern. Die Schienenbusse entsprachen nicht mehr dem Geist der Zeit. Barrierearm sollten die Züge sein und klimatisiert am besten auch noch. So verschwanden nach und nach die blauen Schienenbusse aus dem Verkehr und wurden durch weiß-rot-blaue Regioshuttle RS1 von Stadler ersetzt. Dem Triebfahrzeugführer konnte man nun nicht mehr so einfach bei der Arbeit beobachten, hatte er doch nun einen Führerraum und eine abschließbare Tür. Doch die meisten Personale hielten auf der kleinen Nebenbahn nicht viel von der Einsamkeit ganz vorne im Zug. Man kannte sich und so bleib die Tür offen und kam auch mal ins Gespräch. Auch am kleinen Bahnhof von Wildberg(bei Neuruppin) kam ich mit dem Betriebspersonal in Kontakt. Die Stellwerkstechnik? Unverkennbar aus sowjetischer Konstruktion. Das EZMG-Stellwerk war schon sehr interessant und es reichte ja auch völlig zu für diese eine Zugkreuzung in der Stunde. Ich verbrachte viele Tage dort am Bahnhof oder im Zug und es festigte sich immer mehr der Wunsch: Wenn ich mal groß bin, dann gehe ich zur Eisenbahn!

Im Jahre 2006 bekam ich ein neues Feindbild: Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg. Kurz VBB. Doch warum sollte ein Kind, noch nicht mal Teenager oder Jugendlicher, in einem Verkehrsverbund einen Feind sehen?
Weil er mir die Eisenbahn nahm, die ich so sehr liebte. Zum Jahresende wurde der Verkehr auf der Schiene abbestellt. Zu unrentabel und zu geringe Fahrgastzahlen. Verwundern durfte das niemanden. Der Busverkehr im Landkreis war in den vielen Jahren weiter ausgebaut worden, Takte wurden verdichtet und so kam es, dass der Zug auf ganzer Strecke mit dem Bus in Konkurrenz trat. Beide im Stundentakt, Linienenden in den gleichen Städten im Landkreis, nahezu gleiche Fahrzeiten. Doch der Bus hatte einen Vorteil. Er hielt häufiger und näher an den Fahrgästen. Die Bushaltestellen meist im Ortskern, der Bahnhof, häufig etwas abseits gelegen oder gar zwischen den Ortschaften.

Die Prignitzer Eisenbahn verschwand und mit ihr wurde auch die Bahnstrecke stillgelegt. Die Bahnstrecken wurden mittlerweile an ein anderes Infrastrukturunternehmen abgegeben. Die Region bekam auch wenige Jahre später einen Teil der Eisenbahn zurück. Die Eisenbahngesellschaft Potsdam, die bereits 2010 mit ihrem Tochterunternehmen, der Städtebahn Sachsen, ein Netz mit mehreren Linien in und um Dresden betrieb, nahm zwei Jahre später den Betrieb zwischen Neustadt (Dosse) und Pritzwalk auf. In diesem Jahr verließ ich meine Heimat. Mein Kindheitstraum? In Vergessenheit geraten und verdrängt. Der Beruf hatte in diesem Moment für mich keine Zukunftsperspektive mehr. Streckenstilllegungen, Konkurrenz durch den deutlich flexibleren Bus. Warum sollte man dann noch auf die Eisenbahn setzen? Dann würde es wohl bald keine Lokführer mehr brauchen.

Ich versuchte mein anderes Hobby zum Beruf zu machen. Abitur, anschließend ein Studium, denn wer nicht studiert hat, aus dem wird nix. So hatte man es mir damals eingeredet. Das mit dem Studium war dann am Ende doch nix und nach vier Semestern vergebener Liebesmüh wurde es doch noch eine Berufsausbildung. In all dieser Zeit kam ich jedoch wieder mehr in Kontakt mit der Eisenbahn. Besonders präsent dabei: Die Deutsche Bahn. Ich begann mich wieder zu interessieren. Ich nutzte meine neu erlernten Fähigkeiten und begann das System Schienenpersonennahverkehr zu verstehen. Zumindest besser als noch 2006, als es mir willkürlich vorkam, dass man mir vor der Haustür die Eisenbahn stilllegte. Nach der erfolgreichen Berufsausbildung wollte ich meinen Kindheitstraum wieder erwecken und es sollte klappen. Ich wurde Triebfahrzeugführer bei der DB Regio. Warum aber nun der DB Konzern? Ich kannte in dem Moment kaum etwas anderes. Die persönlichen Kontakte die ich geknüpft hatte? Alle arbeiteten sie bei der DB. Ob S-Bahn München, Regio, Fernverkehr oder Netz. Bei Privatbahnen wie Transdev oder Netinera? Kannte ich niemanden und es gibt sie heute wie damals: DB-Mitarbeiter, für die es nur die eine DB gibt und alle anderen Privatbahnen das Böse darstellen. Davon ließ ich mich auch beeinflussen. Leider.

Ich erwähnte vor zwei Absätzen die Städtebahn Sachsen. Deren Insolvenz und die schlagartige Einstellung des Zugbetriebs im Jahr 2019 war so laut, dass man den Knall bis nach München hörte. Das erste Gefühl in der naiven DB-Bubble: Schadenfreude. Die Schuldigen waren auch schnell ausgemacht: Das Management der Städtebahn Sachsen, welches mit Kampfpreisen die DB verdrängt hat und eine verkehrte Verkehrspolitik und deren ausführende Organe, die Zweckverbände bzw. Landesnahverkehrsgesellschaften, die sowieso keine roten Züge mehr sehen wollten.
Heute schäme ich mich für diese naive Einschätzung von damals. Als ich zwei Jahre später nach Dresden kam und hier meine neue Heimat fand, lernte ich die letzten, sterbenden Reste einer Städtebahn Sachsen kennen. Personal und Fahrzeuge waren noch geblieben. Nur am notdürftig aufgeklebten Logo war der neue Betreiber, der innerhalb von drei Monaten gefunden worden ist und den Betrieb wieder aufnahm, erkennbar: Die Mitteldeutsche Regiobahn. Die Städtebahn Sachsen? In Liquidation. Dieses Jahr, fünf Jahre später, wäre der Verkehrsvertrag regulär ausgelaufen. Ob die Städtebahn ohne Insolvenz das Dieselnetz auch darüber hinaus betrieben würde?

Ich hätte die Städtebahn Sachsen gerne mit den gleichen Augen kennengelernt, mit denen ich die Prignitzer Eisenbahn kennengelernt habe. Ich wüsste gerne, ob es dann auch mein Kindheitstraum geworden wäre, Lokführer zu werden. Aber noch viel lieber wüsste ich ob ich trotzdem bei der DB gelandet wäre, oder ob ich heute bei einer Privatbahn wäre, wenn damals die Verkehre nicht abbestellt worden wären, bzw. im Falle der Städtebahn Sachsen die Insolvenz ausgeblieben wäre.