Liebe Reisende…
… ihr seid Bundestrainer und Bundeskanzler. Ihr seid Gesundheitsminister und wart alle eine zeitlang Papst. Und ihr seid Eisenbahnexperten, ach, und selbstverständlich auch Bahnchef. Ihr seid frei von Fehlern und habt selbst auf die komplexesten Probleme immer eine simple Lösung parat. Unserem Land würde es besser gehen, wenn man auf euch hören würde. Die Anderen sind eh nur unfähig und unqualifiziert.
Wenn ihr den Zug verpasst, dann wart ihr nicht zu spät. Nein, wir sind zu früh losgefahren und die Uhr geht auch noch falsch. Wenn der Zug eine Minute hinter dem Plan ist, dann sind wir zu unfähig und wegen uns verpasst ihr jedes Mal den wichtigsten Termin eures Lebens. Wenn euer Fahrrad, mit großem Anhänger für den Nachwuchs und Gepäcktaschen, am langen Wochenende bei Kaiserwetter nicht mehr in Zug passt, dann ist es unsere Schuld, denn wir hätten ja noch ein zwei drei Wagen anhängen können. Wenn ihr mit eurem Säuglingen am Pfingstwochenende, an dem niemand unterwegs sein wird, in den Zug steigt, dann ist es unsere Verantwortungslosigkeit, dass ihr für euch und euren Kindern schlechte Luft und keinen Platz zum Sitzen habt.
Wir, ja wer sind wir? Wir sind Lokführer und Zugbegleiter. Reisendenlenker und Servicemitarbeiter. Wir sind diejenigen, die auf einer maroden Infrastruktur und einem branchenweiten Personalmangel versuchen euch irgendwie sicher und pünktlich an euer Ziel zu bringen. Zum Dank droht ihr uns mit Beschwerden, wenn die Fahrt nicht nach eurem Geschmack verlaufen ist. Wir sind zwar ein Massenverkehrsmittel, doch ihr erwartet eine Limousine mit persönlichem Chauffeur.
Wenn wir im Zug auf die Maskenpflicht hinweisen, dann sind wir Untertanen und Systemhuren ohne eigenen Willen. Rennen wir nicht jeder Der hatte die ganze Zeit keine Maske auf!-Beschwerde umgehend hinterher, sind wir Querdenker und prinzipiell im falschen Beruf.
Wenn wir uns entschieden haben, dass der Zug zu voll ist, als dass eine sichere Weiterfahrt gewährleistet ist, dann wird diskutiert. Wenn wir nach festgelegten Kriterien einigen Reisenden die Weiterfahrt untersagen müssen, werden wir ignoriert (was das angenehmere Extrem ist) oder angegangen. Die beliebtesten Fahrkarten, die ihr uns zeigt, gab's zum Das hab mir keiner gesagt!-Tarif. Kassenschlager hier: Das stand nirgendwo-Ticket.
Würde ein Jeder von uns, dem ihr schon gedroht habt, er würde nach eurer Beschwerde seinen Job verlieren, den Beruf an den Nagel hängen, dann könntet ihr laufen. Oder im Stau stehen. Sucht es euch aus.
Wann habt ihr eigentlich das letzte Mal Verantwortung übernommen? Wenn mal etwas nicht so geklappt hat, wie ihr es eigentlich wolltet? Meistens ist doch immer jemand anderes Schuld. Die Ampel war zu lange rot, auf der Rolltreppe stand jemand vor mir, der Aufzug kam nicht. Geht doch einmal in euch und prüft, was ihr hättet anders machen können. Einmal aufmerksamer lesen, was geschrieben steht. Einmal überlegen, ob am sonnigen Wochenende in ein Naherholungsgebiet wirklich noch vier Fahrräder und ein Fahrradanhänger mit in den Zug müssen. Einfach auch mal eine Anweisung hinnehmen, wenn ihr vom Betriebspersonal ermahnt werdet.
Natürlich ist es unfair, euch hier so an den Pranger zu stellen. Es läuft bei weitem nicht perfekt bei uns. Doch überlegt mal, an wem ihr euren Frust auslasst. An denen, die nichts unversucht lassen, um noch irgendwie das Beste aus der Situation zu machen und doch am Ende am wenigsten dafür verantwortlich sind. Dass das nicht immer klappt und auch mal schief gehen kann, liegt in der Natur der Sache. Es macht keinem Eisenbahner eine Freude, konsequent dem Fahrplan hinterher zu fahren. Es ist nicht unser Anspruch, dass die Klimaanlage ihren Dienst quittiert und ihr im Heißen sitzt. Es macht uns auch nicht glücklich, wenn ihr euren Anschlusszug verpasst oder wir euch nicht mehr mitnehmen können, weil der Zug voll ist. Wir sind froh und zufrieden, wenn wir einen Dienst fahren konnten, der ohne besondere Vorkommnisse, Verspätungen und Störungen auskommt. Jeder verspätete, ausgefallene oder defekte Zug ärgert uns mindestens genau so sehr wie euch. Wir (oder zumindest viele von uns) sind froh, wenn ihr uns auch mal euer Lächeln schenkt, oder einfach mal den Frust über die Probleme runterschluckt und schätzt, dass wir uns bemühen, die Auswirkungen für euch so gering wie möglich zu halten.
Wisst ihr, wer mich kennt, der weiß, dass ich äußerst ungerne pauschal jeden über einen Kamm schere. Aber ich bin mittlerweile an einem Punkt angekommen, bei dem ich darüber nachdenke, ob und wie lange ich noch meinen Job, so wie heute, weitermachen möchte. Es macht keinen Spaß mehr. Denn es drückt von allen Seiten.
Da hätten wir unseren Fahrzeugpark. Er ist auf Kante geschnitten. Reserven sind nur begrenzt da. Gewollt, denn jede Reserve mehr kostet bei der Beschaffung Geld und das muss man im Angebot, wenn man den Auftrag für eine Nahverkehrsleistung haben will, einpreisen. Nur irgendwann ist man zu teuer und gewinnt den entsprechenden Auftrag nicht. Es wird angeboten, was gefordert ist. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn es nicht reicht: Tja, blöd gelaufen.
Doch selbst wenn wir mehr Fahrzeuge hätten und bei hoher Nachfrage längere Züge bilden könnten, jaja, kommt mir jetzt nicht mit der Schweiz, ich weiß, dass die dort auch mit 400 Meter langen S-Bahnen unterwegs sind, es fehlen bei uns die passenden Bahnsteige. Der barrierefreie Bahnsteig wurde eben nur bis 140 Meter gefördert. Alles, was länger ist, hätte aus eigener Tasche gezahlt werden müssen.
Aber wir könnten doch mit mehr Fahrzeugen häufiger fahren! Nun, wo fange ich an… okay, mal noch im kleinen Rahmen: Mit welchem Personal? In vielen Regionen sind wir personell unterbesetzt. Fast überall sucht man neue Mitarbeiter. Seit Jahren werden Schichten verdichtet und die Arbeitslast erhöht, um die steigenden Verkehrsleistungen mit immer weniger werdenden Mitarbeitern abdecken zu können. Dass in Verkehrsberufen auch nicht jeder potentielle Bewerber auch körperlich und/oder psychisch geeignet ist, sollte wohl auf der Hand liegen.
Doch selbst wenn wir genügend Mitarbeiter wären, setzt uns die Infrastruktur neue Grenzen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Pünktlichkeit der DB AG in diesem Jahr so schlecht, wie schon lange nicht mehr, ist. Selbst wenn wir nun den Investitionsstau auflösen möchten, wird es noch Jahre dauern, bis die Beeinträchtigungen nachhaltig ein Ende finden. Im Gegenteil, die erforderlichen Baumaßnahmen werden noch einmal mehr Geduld fordern.
Und dann kommt ihr. Ihr, die mit dem Finger auf die Uhr tippen, die Streit vom Zaun brechen, weil ihr ohne Fahrkarte in den Zug eingestiegen seid, ihr, die uns Gewalt androht, uns beleidigt und beschimpft. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es einfach zu viel wird. Nur, eigentlich mag ich meinen Beruf, ich mache ihn total gerne, trotz diverser Widrigkeiten. Doch in letzter Zeit wird auch das alles zu viel. Dabei möchte ich den Führerstand nicht verlassen. In einen anderen Geschäftsbereich zu wechseln, der weniger Kundenkontakt verspricht, mag vielleicht eine Lösung sein. Doch wie hoch ist der Preis dafür? Kann ich dann weiterhin jede Nacht in meinem Bett schlafen, oder muss ich aus dem Koffer leben? Kann ich denn überhaupt noch jede Nacht schlafen, oder muss ich dann die Nacht zum Tag machen?