Mit der Bahn durch Zeit und Raum
Es ist ja nicht neu, dass die Bahn gerne für allerlei Spott und Hohn sorgt. Alle paar Jahre übrigens auf eine ganze besondere Art.
Genauer gesagt knapp alle 20 Jahre. Beziehungsweise nach einem Fahrzeugalter von ca. 20 Jahren. Eine längere Lebensdauer haben die Konstrukteure den Reisezugwagen in Deutschland nicht zugedacht. Oder zumindest dem Fahrgastinformationssystem.
Nun muss man wissen, die Fahrgastinformation in den meisten Doppelstockwagen in Deutschland läuft mit Windows 95. Oh schreck, wie kann man nur ein so altes, angreifbares System noch heute einsetzen, klingelt es mir jetzt schon in den Ohren. Aber beruhigt euch. Die Geräte bekommen ihre Daten über eine CF-Karte in der Werkstatt aufgespielt. Das war's. Kein Internet. Kein Intranet. Keine Datenverbindung. Nur ein Rechner, der über ein Modem über zwei Drähte vom Steuerwagen bis zur Lok mit jedem Wagen-Rechner spricht und dabei nur Datum, Uhrzeit, Linie, Zugnummer und Zugziel übermittelt. Vielleicht hat man einen Wagen mit Infodisplays erwischt? Der Wagenrechner kann noch per SMS die Anschlusszüge anfordern und auf den TFT-Displays anzeigen. Ganz klassisch per GSM.
Ach ja. Dann gibt's ja noch GPS. Damit der Computer, der die Ansagen ausspielt, Displays und Slave-Rechner im Wagenverband ansteuert, weiß, wo sich der Zug befindet. Früher nahm man einfach das gleiche Signal wie für den Tacho. Vom Wegimpulsgeber. Dadurch wusste der Computer, wie schnell der Zug fährt und wie weit er seit dem letzten Halt gefahren ist. Dann kann er rechtzeitig die nächste Ansage abspielen. "Nächster Halt: Leipzig Hauptbahnhof". Aber wenn man doch mal eine Umleitung fahren muss, die einige Kilometer länger ist und deswegen vielleicht sogar noch Halte ausfallen müssten? Egal. Die Fahrgastinformation quasselt einfach weiter, als wäre nix gewesen. Nur passen die Ansagen irgendwann gar nicht mehr zur Position des Zuges. Im besten Fall kann der Lokführer korrigierend eingreifen. Im schlechtesten Fall hat er auf seinem Führerstand kein Terminal zur Kommunikation mit dem Fahrgastinformationssystem, sondern nur einen Knopf, um die Ansage für den nächsten Halt auszulösen.
Deswegen: GPS. Um den Halt wird auf der Landkarte ein Rahmen in Form eines Vierecks gezimmert. Virtuell. Stößt der Zug an das Fenster an, wird die jeweilige Ansage abgespielt. Funktioniert super und bei Umleitungen findet das System sich auch von allein wieder und verliert nicht die Orientierung. Umfahrene Halte? Werden meist, bei genügend Abstand, nicht angesagt. Blöd nur, wenn der Zug genau auf der Grenze zwischen zwei sehr eng aneinanderliegenden Halten stehen bleibt. "Nächster Halt: Dresden-Neustadt. Nächster Halt: Dresden Mitte. Nächster Halt: Dresden-Neustadt. Nächster Halt: Dresden Mi…" Ihr versteht, was ich meine.
Jetzt helfen wir dem Zug schon aus dem All herauszufinden, wo er sich befindet. Dann können wir doch eigentlich auch gleich noch die vorhandene Antenne benutzen um immer das richtige Datum und die richtige Uhrzeit anzuzeigen. Früher musste man die ja noch regelmäßig prüfen und eventuell korrigieren. Digitaluhren können ja schnell mal um einige Minuten abdriften. Mit GPS soll das nicht mehr passieren. Wenn nur nicht…
Tja, wenn nur nicht das GPS-Signal eine Falle enthalten würde. Denn der Satellit da oben im All sendet nicht "Wir haben den 17. Juli 2023, es ist 21:16:43 Uhr" sondern eher "Woche 223, Sekunde 76621". Die Ersten sollten nun stutzig werden. Woche 223? Das sind ja… etwas mehr als vier Jahre! Womit ihr recht habt. Denn genau hier liegt das Geheimnis eurer unfreiwilligen Zeitreise begraben: GPS kann nur 1024 Wochen abbilden, also etwas weniger um die 20 Jahre. Was nach Woche 1023 passiert? Der Satellit fängt wieder an bei 0 zu zählen. Nun waren die Zughersteller nicht ganz dumm. Sie haben den Fahrzeugen bei der Auslieferung schon ihr "Geburtsdatum" und die dazugehörige GPS-"Geburtswoche" verraten, von dem aus die Fahrzeugrechner nur weiterrechnen müssen. Selbst wenn der Satellit aus Woche 1023 wieder Woche 0 macht. Dadurch ist zumindest sichergestellt, dass die Systeme ungefähr 20 Jahre durchhalten sollten.
Doch die Fahrzeuge hielten länger und die Fahrgastinformationssysteme eben auch. Die Fahrzeuge landeten wieder in der "Geburtswoche" und… ja, was jetzt? Sind wir wieder zurück im Geburtsjahr der jeweiligen Fahrzeug-Generation. Weil auch niemand 20 Jahre lang an diese Falle denkt, wird dann ganz plötzlich eine Störung bemerkt und der Hersteller muss ein "Update" für die Ansage- und Anzeigesysteme entwickeln. Sobald das einmal aufgespielt ist, geht es zurück in die Zukunft. Eine neues "Geburtsdatum" wird hinterlegt und schon kann die Anzeige für die kommenden 20 Jahre wieder treue Dienste leisten.
Übrigens: Bei modernisierten Systemen, meist daran erkennbar, dass die Anschlusszüge nicht mehr vom Zugbegleiter sondern vom Computer gesprochen werden, sollte dieses Problem nicht mehr auftreten. Hier läuft auch kein Windows 95 mehr, sondern ein für seinen Zweck angepasstes Linux-System, welches übrigens auch an das Internet per LTE angebunden ist. Das weiß im Zweifel aus dem Internet, ob wir das Jahr 2023 oder 2003 schreiben und kann, ganz nebenbei, auch die GPS-Postion an einen zentralen Server senden um künftig schnellere und genauere Informationen über Verspätungen auf den beschaulichen Nebenbahnen liefern zu können. An die Bahnsteige, an die Apps und auf die jeweiligen Internetseiten.